In meinem Artikel „Existenz zwischen Chaos und Ordnung – ein Spiel?“ wird die These aufgestellt, dass sich Leben in Form von Ordnungsübergängen mit zwischengeschalteten chaotischen Zuständen abspielt. Die Interaktionen zwischen Ordnung und Chaos lassen sich z. B. naturwissenschaftlich mit der Theorie dynamischer Prozesse (=sog. Chaostheorie) oder mit der Theorie der Synergetik (Hermann Haken) oder kulturwissenschaftlich als Spiel (Johan Huizinga) beschreiben. Die Spiel-Perspektive macht es u.a. auch in Problem-Situationen leichter, seine Freiheiten zu sehen und kreative Lösungen zu finden – z. B. bei Arbeit und Arbeitslosigkeit. Daher lohnt es sich in der Psychotherapie und natürlich auch in der Logotherapie nach Spielaspekten Ausschau zu halten und das Spiel in die Sinn- und Werte-Verwirklichung einzubeziehen.
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Wolfgang Hoffmann:
Existenz zwischen Chaos und Ordnung – ein Spiel?
Manuskript eines vom Autor am 20.10.2006 in Augustusburg vor der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse Ost (GLE-Ost) gehaltenen Vortrags,
veröffentlicht im Blatt der GLE-Ost: „Sinn und Sein“, Ausgabe 1/2007
Chaos und Ordnung
„Chaos“ (χάος) bedeutet eigentlich „der leere Raum“. Chaos ist der Gegensatz von Kosmos (κόσμος). Kosmos kann mit Begriffen wie Ordnung, Schmuck, Wohlgestalt, Anstand, Ehre, Weltordnung, geordnetes Weltall, Welt übersetzt werden. Chaos ist auch das Unbeschreibliche, das Unbenennbare, das Ungewisse, das Unvorhersagbare, das Nichtdeterminierte. Das hat aber die Physik und die Informationstheorie nicht daran gehindert, ein Maß für das Chaos einzuführen. Nach dem Boltzmannschen Gesetz strebt die Natur einen Zustand an, bei die dem größte Zahl von Möglichkeiten verwirklicht wird, sich gleichmäßig über den vorhandenen Raum zu verteilen. Den Logarithmus dieser Zahl an Möglichkeiten nannte Ludwig Boltzmann „Entropie“. Die Entropie ist ein Maß für die Unordnung bzw. Unvorhersagbarkeit. Die Natur strebt also stets einen Zustand an, bei dem die Entropie am größten ist. Der Zustand der Unordnung erzeugt sich von selbst ohne besondere äußere Einwirkung. Leben ist nach dem Physiker Erwin Schrödinger dagegen etwas, das von außen negative Entropie (= Negentropie) aufnimmt und speichert. Dem Negentropie-Import entspricht ein Entropie-Export.
Ordnung kann nur in einem „offenen“ System mit von außen zugeführter Energie ohne Widerspruch zum 2. Hauptsatz der Thermodynamik entstehen. So kann z. B. „ungeordneter“ Wasserdampf durch Abkühlung in Wasser mit einem höheren Ordnungszustand als Dampf und dieses Wasser durch weitere Abkühlung in festes, hochgeordnetes kristallines Eis überführt werden. Derartige Phasenübergänge kann aber nur eine auf Energiezufuhr angewiesene Kältemaschine ermöglichen.
Der theoretische Physiker Hermann Haken erklärt solche Phasenübergänge als Selbstorganisationsvorgang. Durch kleine Schwankungen werden „spielerisch“ solche Organisationsformen herausgefunden, bei denen der Phasenübergang „reibungsloser“ vonstatten geht. Aus der Konkurrenz vieler Ablaufmuster, sog. Moden, setzt sich die Mode mit der höchsten Wachstumsrate als „Ordner“ durch und „versklavt“ damit die anderen Moden, indem sie es schafft, dass die anderen ihr Verhalten kopieren. Der Ordner hat ein Verhalten, dass besonders gut (z.B. energiesparend) den anstehenden Phasenübergang bei den jeweils vorhandenen Randbedingungen bewältigt.
Wird z.B. ein Luft- oder eine Flüssigkeits-Volumen von der unteren Seite aus gleichmäßig erhitzt, so dehnt sich die Materie in dem erhitzten Bereich aus und will zu den kälteren Zonen aufsteigen. Von oben drücken aber die schwereren kälteren Massen auf die unteren. Eine kleine erwärmte Luft- oder Flüssigkeitsblase kühlt sich dann beim Aufsteigen schnell ab und die Aufwärtsbewegung kommt zum Erliegen. Wird die Temperaturdifferenz durch zunehmende Erwärmung gesteigert, so drängen immer mehr Luft- oder Flüssigkeitsbläschen nach oben. Ein chaotischer Zustand von sich gegenseitig „anrempelnden“ Bläschen wäre jetzt zu erwarten. Es kommt aber merkwürdiger Weise zu einer selbstorganisierten einheitlichen Bewegung der Bläschen. Die Flüssigkeit testet nämlich ständig verschiedene Bewegungs-möglichkeiten aus, indem probeweise einzelne heiße Bläschen bzw. Tröpfchen aufsteigen und einzelne kühlere absinken, so dass ein Wettstreit entsteht. Haben einige heiße Teilchen eine ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften und den Bedingungen des Systems entsprechend „günstige“ Stelle zum Aufsteigen gefunden, so ziehen diese Teilchen als „Ordner“ andere heiße Teilchen mit sich und „versklaven“ diese. Die „Sklaven“ stärken wiederum die „Ordner“. Bei den absinkenden Teilchen läuft der gleiche Prozess ab. Es zeigt sich, dass eine kreisförmige Bewegung für die aufsteigenden und absinkenden Teilchen am wenigsten „Reibungsverluste“ bringt. Folglich wird sich diese rollenförmige Bewegungsform gegen die Konkurrenz anderer Bewegungsformen im anfänglichen Chaos durchsetzen und das Spiel gewinnen. Es entstehen sog. Bénard-Zellen (s. Abb. 1a).
Abb. 1: Entstehung von Bénard-Zellen
Die Drehrichtung der Rollenbewegung und oft auch die Achsenrichtung dieser Rollen bzw. hexagonalen Säulen ist nicht vorhersehbar, wohl aber derjenige Rollendurchmesser, der der Geometrie des Topfes und den entsprechenden Temperaturdifferenzen am besten angepasst ist. Dieses spontane, nicht von außen gesteuerte Wettkampf-Spiel mit seinem Ausleseprozess nennt Hermann Haken „Synergie“ (= „Zusammenwirken“) (1) (2). Wird die Luft oder die Flüssigkeit allerdings noch stärker von unten erhitzt, kommt die Rollenbewegung zum Erliegen. Man kann keine Bénard-Zellen mehr beobachten, sondern es entsteht an Stelle dessen eine völlig unregelmäßige turbulente Bewegung, die sich nicht mehr exakt berechnen lässt – i. G. zu den Bénard-Zellen. Der Bénard-Effekt kann auch in Form von Wolkenstrassen am Himmel beobachtet werden (s. Abb. 1b).
Analog zu den Bénard-Zellen gibt es viele andere Phänomen, bei denen – gleichermaßen vorherbestimmt und zufällig – synergetische Prozesse auftreten z. B. beim Laser, beim Plasma, bei der Supraleitung, bei der Mode, bei der öffentlichen Meinung, im Verkehr, bei der Gehirnfunktion etc. Immer findet ein Wettkampf unter den Beteiligten statt und es kommt über einen „Ausleseprozess“ zu einer neuen Ordnung (ähnlich wie bei Darwin). Wie bei einem Spiel findet in der Synergetik ein Wechsel zwischen Zufall und Notwendigkeit statt, „wobei der „Zufall“ durch die spontane Entstehung eines Ordners dargestellt wird, während die „Notwendigkeit“ durch das unerbittliche Gesetz des Wettbewerbs verkörpert wird“ ((2) S. 68).
Synergie ist eine Interaktion zwischen Ordnung und Chaos, die in einem offenen System stattfindet, dem von außen Energie zugeführt wird, so dass der alte Zustand nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, weswegen die Bestandteile des Systems spielerisch einen neuen, besseren Zustand suchen und, wenn sie ihn gefunden haben, diesen im Kollektiv verstärken, wodurch die Wachstumsrate dieses Kollektivs steigt, bis es die Konkurrenz besiegt hat. Der neue Zustand weist dann in der Regel eine höhere Ordnung auf als der alte.
Abb. 2: Phasenübergänge
Es finden also bei den Phasenwechseln aufeinander folgende Wechsel zwischen Ordnung und Chaos statt (s. Abb. 2).
Ordnung herrscht dann, wenn die Dinge an dem Ort sind, an den sie hingehören. Ordnung hat somit den Effekt, dass die Komplexität der Umwelt reduziert wird. „Unser Leben ist durchzogen von kleineren und größeren Entscheidungen, welche die Komplexität der Umwelt (d. h. die Anzahl der Möglichkeiten) kurzfristig steigern und dann wieder reduzieren. Solche Kaskaden pulsierender Komplexitätssteigerung und Komplexitätsreduktion begleiten uns im Kleinen wie im Großen, mit mehr oder weniger bewusster Aufmerksamkeit.“ So könnte das Leben eine einzige Kaskade von Ordnungsübergängen sein, die schon von minimalen Störungen ausgelöst werden. „Ordnung“ ist dabei dynamisch als „synchronisiertes Funktionsmuster der involvierten Subsysteme und Netzwerke“ anzusehen ((3) S. 26). Die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Chaos und Ordnung sind vielfältig. Sie können als Wechselwirkung, Rückkopplung, Schwingung, Synergetik, Tanz oder auch Spiel ausgemacht werden (s. Abb. 3).
Abb. 3: Interaktion zwischen Chaos und Ordnung
Bei der Rückkopplung wirkt das Geschehen in einem System wieder auf dieses zurück, so dass dieses nicht-lineare System zu verschiedenartigen Schwingungen angeregt werden kann. Zu Schwingungen kommt es unter dem wechselnden Einfluss von mindestens zwei Kräften bzw. Energien. Das hat die Schwingung mit dem Spiel gemeinsam. Auch beim Spiel kann es Schwingungen zwischen zwei Extremen geben, z. B. zwischen Zufall und Gestaltung oder zwischen Gewinn und Verlust oder Gut und Böse (Geschicklichkeitsspiele, Wettkämpfe oder Tragödie bzw. „großes Welttheater“ (siehe auch „Hiob“ oder „Faust“).
Der Übergang von einer einmal gefundenen „Ordnung“ in eine andere kann sprunghaft erfolgen und sich in Schwingungen wiederholen, wie zum Beispiel bei der Wahrnehmung von ambiguen Bildern (s. Necker-Würfel, Vase/Kopf, alte/junge Frau, Hase/Ente und Einstein/die Badenixen) (s. Abb.4).
Abb. 4: Necker-Würfel
Der Necker Würfel ist gewisser Maßen ein Beispiel dafür, dass mehrere (hier: zwei) Phasen gleichberechtigt nebeneinander existieren können. Als weiteres Beispiel für mehrdeutige Ordnungen mag die Veränderung der gültigen Partnerschaftsformen (Abb. 5) dienen. Anfangs gab es nur eine einzige durch gesellschaftliche Tradition, soziale Vorbilder und kirchliche Vorschriften sanktionierte Form der Partnerschaft. Spätestens z. Zeit der Romantik trat neben der traditionellen Familien-Ehe die Liebesheirat in Form einer Gefühlsgemeinschaft als allgemein akzeptierte Partnerschaftsform auf. Wie Abb. 5 zeigt kam es zu einer Verzweigung (= Bifurkation), indem sich das vorherige singuläre Modell – wahrscheinlich über synergistische Effekte – in zwei Modellformen aufspaltete, die alternativ oder alternierend von den Menschen wahrgenommen werden konnten, ohne von der Öffentlichkeit marginalisiert bzw. verdammt zu werden. Die ständig zunehmende Information über neue Partnerschaftsmodelle führte zu immer mehr gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander existierenden und gelebten Formen von Partnerschaft; d. h. die Verzweigungen führten infolge des gestiegenen Informationsflusses zu weiteren Bifurkationen. Wie in einem „Spiel des Lebens“ kann sich der Mensch nun entscheiden, auf welchen Ast des sich immer stärker verzweigenden Baumes „Partnerschaftsmodell“ er sich schwingen will bzw. auf welchen anderen Ast er überwechseln will. Nach dem Sozialpsychologen Kenneth Gergen (4) kann ein Fernsehzuschauer bereits in zwei Stunden „TV-Genusses“ bis zu 20 Modelle von Partnerschaft kennen lernen (man denke nur an die Soap-operas und Tele-Novelas!). Die mit wachsendem Informationsfluss erfolgende Zunahme gesellschaftlich anerkannter Partnerschaftsmodelle mit den entsprechenden Verzeigungen im Kurvenverlauf von Abb. 5
könnte in einer chaotischen Vielfalt enden – analog zu der von Verhulst gefundenen Wachstumsdynamik.
Abb. 5: Zunahme der Partnerschaftsmodelle bei wachsendem Vorrat an Vorbildern
Verhulst nahm an, dass das relative Wachstum von einer Generation zur nächsten immer kleiner wird, je stärker die Population anwächst. Nach Verhulst geht die zunehmende Anzahl von Bifurkationen ab einem kritischen Wachstumsfaktor in einen chaotischen Bereich über, bei dem keine Aussagen mehr über die Populationsgröße gemacht werden können. Droht nun auch die Zahl der Gestaltungsmöglichkeiten von Partnerschaft nach Art der Verhulst-Dynamik irgendwann in einen chaotischen Bereich abzukippen?
Bei der Verhulst- Dynamik und wohl auch bei der Ausbildung von Partnerschaftsmodellen spielen Rückkopplungen eine wichtige Rolle. Dadurch werden Bifurkationen und sprunghafte Zustandswechsel überhaupt erst möglich. Es sieht aus, als ob Chaos und Ordnung bei den Phasensprüngen miteinander spielen würden!
Aber was ist überhaupt „Spiel“?
Definition von „Spiel“
Über das Wesen des Spiels hat der niederländische Historiker und Kulturanthropologe Johan Huizinga in seinem bekannten Buch „Homo ludens“ (5) sehr tiefgründige Überlegungen angestellt, denen ich gerne folgen möchte. Huizinga weist darauf hin, dass „Spiel“ ein vieldeutiger, schwer zu definierender Begriff ist. Das wird auch dadurch deutlich, dass z. B. im Alt-Griechischen die Bedeutung, die das Wort „Spiel“ im Deutschen hat, auf mehrere Wörter verteilt wird: „Paidia“ (παιδιά) leitet sich vom kindlichen Spiel ab, ist darauf aber nicht beschränkt und betont das Fröhliche und Unbesorgte. „Athyrma“ (’Άθυρμα) meint unwesentliches, nur sich belustigendes und tändelndes Spielen. „Agon“ (’Αγών) ´bezeichnet die Kampf- und Wettspiele – Spiele, die auch immer zugleich auch Fest und heilige Handlung waren. Auch im Altindischen und im Chinesischen wird der Begriff des Wettstreits von dem Wort für das unbeschwerte Spiel unterschieden, während beim lateinischen Wort „ludus“ wie beim deutschen Wort „Spiel“, beim niederländischen Wort „spel“ und beim englischen Wort „play“ alle drei Bedeutungen „mitspielen“ (s. (5), S.37ff).
Das Wort „Spiel“ ist verbunden mit folgenden Assoziationen:
- Eigene Regeln und Einschränkungen (auch in der Technik), Ordnung,
- Unbesorgtsein, Unbeschwertsein, freies Handeln, Freiheit,
- Ungewisser Ausgang, Wagnis, unsichere Chance, Gewinnaussicht, Risiko, Spannung,
- Sozialer Gemeinschaft, soziale Einbettung und Vernetzung,
- Distanz zur Wirklichkeit, „Als-ob“-Charakter, Rollenübernahme,
- Etwas Nicht-Ernstes, Nicht-Wirkliches, Überflüssiges, Unvernünftiges, Zeitvertreib, Tändelei,
- Lust, Spaß, „Flow“, Freude, Glück, Begeisterung, Eifer, Verzückung, Leidenschaft,
- Geschicklichkeit, Eleganz, Schönheit, Kultur,
- Dynamik, Bewegung, Rhythmus, Aktivität,
- Beschränkung von Raum und Zeit, Wiederholbarkeit.
Das Spiel ist nicht das gewöhnliche, eigentliche Leben. Nach Johan Huizinga „steht das Spiel außerhalb der Prozesse der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozess“. Es wird i. a. in der Freizeit gespielt. Es wird oft als minderwertig angesehen („nur ein Spiel“). Aber „das Spiel kann in Ernst und der Ernst in Spiel umschlagen. Das Spiel kann sich auf die Höhen der Schönheit und Heiligkeit erheben, wo es den Ernst weit unter sich lässt“ ((5) S.17). Huizinga sieht das Spiel als Kultur stiftend an: „Es befriedigt Ideale des Ausdrucks und des Zusammenlebens“ ((5) S. 17). Das Spiel schafft die „Natur des Menschen“, als die Frankl die Kultur ansieht – des Menschen, der erst zum Menschen wird durch seine geistige Dimension.
„So wäre es eine wunderbare Perspektive, wenn man alte Leute spielen ließe“ sagt der Unternehmensberater und Schauspieler („Scharlatan-Theater“) Ali Wichmann und er habe oft das Gefühl, dass Senilität eine Flucht aus der Ernsthaftigkeit sei, in die man die Alten presse (6).
Nach Huizinga geht „Spiel“ über den Drang nach Lebensbehauptung hinaus und legt in die Lebensbetätigung einen Sinn hinein, in dem er Mythen und Kult schafft. (s. (5), S. 9). Durch den Mythos sucht der frühe Mensch das Irdische dadurch zu erklären, dass „ein erfindungsreicher Geist am Rande von Scherz und Ernst“ spielt. „Die frühe Gemeinschaft vollzieht (im Kult) ihre heiligen Handlungen, die ihr dazu dienen, das Heil der Welt zu verbürgen, ihre Feste, ihre Weihen, ihre Opfer und ihre Mysterien, in reinem Spielen im wahrsten Sinne des Wortes… In Mythus und Kult aber haben die großen Triebkräfte des Kulturlebens ihren Ursprung: Recht und Ordnung, Verkehr, Erwerb, Handwerk und Kunst, Dichtung, Gelehrsamkeit und Wissenschaft“ – all das wurzelt im spielerischen Handeln (s. (5), S. 13). So wird noch bei Shakespeare die Welt mit einer Schauspielbühne verglichen: „Bretter die die Welt bedeuten“ und es wird im 16. Jahrhundert das „große Welttheater“ aufgeführt. Mit der Zeit ließ die kultische Strenge nach und das rein spielerische Element gewann stärker an Bedeutung.
„Spiel“ hat eine Kulturfunktion und sorgt für geistige und soziale Verbindungen (s. (5), S. 17). Das Spiel erzieht den Menschen zu einer gewissen Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung und diese sind Voraussetzungen einer Kultur. Da das „Spiel“ i. a. in einer Spielergemeinschaft stattfindet, hat es auch eine soziale Funktion (z. B. Klub-Bildung). „Je mehr das Spiel dazu geeignet ist, die Intensität des Lebens des Einzelnen oder der Gruppe zu erhöhen, umso mehr steigt es zu Kultur auf“ (s. (5), S. 59).
Zum Spiel gehören Fröhlichkeit und Anmut. „Das Kind und das Tier spielen, weil sie Vergnügen daran haben, und darin eben liegt ihre Freiheit… „Spiel“ ist „freies Handeln“: „Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr“ (s. (5), S. 16).
Das „Spiel“ ist überflüssig – es kann jederzeit ausgesetzt werden oder ganz unterbleiben „Spiel“ ist nicht das „gewöhnliche“ oder das „eigentliche“ Leben: es ist „Nichternst“ (s. (5), S. 16) – was nicht ausschließt, „dass dies „bloße Spielen“ mit größtem Ernst vor sich gehen kann, ja mit einer Hingabe, die in Begeisterung übergeht und die Bezeichnung „bloß“ zeitweilig völlig aufhebt (s. (5), S.17). „Ernst sucht das Spiel auszuschließen, Spiel jedoch kann sehr wohl den Ernst in sich einbeschließen“ (s. (5), S.56).
Das „Spiel“ „spielt“ sich innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum „ab“. „Solange das „Spiel“ im Gange ist, herrscht Bewegung, ein Auf und Nieder, ein Abwechseln, eine bestimmte Reihenfolge, Verknüpfung und Lösung“. Es wird überliefert und kann jederzeit wiederholt werden (s. (5), S. 18).
Das Spiel ist an Regeln gebunden, die nicht gebrochen werden dürfen. So fordert und schafft das „Spiel“ Ordnung.
Beim Spiel kommt es zu einer Interaktion von Zufall und Regeln. „Das Spiel selbst ist weder mit dem Satz seiner Regeln noch mit der Kette von Zufällen, die seinen Ablauf individuell gestalten, identisch. Es ist weder das eine noch das andere, weil es beides zugleich ist und es hat unendlich viele Aspekte – so viele man eben in Form von Fragen hinein projiziert“ ((7) S. 11f).
„Spielen ohne Risiko gibt es nicht. Wer Sicherheit will, spielt nicht. Beim Spielen will man Glück haben und gewinnen. „Zum Glück brauchst du Freiheit. Zur Freiheit brauchst du Mut“ sagt Perikles. Allerdings verliert der die Freiheit, der als Hasardeur russisches Roulette spielt, der um alles oder nichts spielt, wie ein Spielsüchtiger. Auf diesem Gebiet scheinen Dostojewskis Landsleute besonders anfällig zu sein. In Moskau sind nach Einschätzung von Psychologen mehr als 300 000 Moskauer spielsüchtig. Viele russische Autofahrer veranstalten spontane Wettrennen auf den Strassen mit dem Resultat von mehr als 35 000 Verkehrstoten pro Jahr in Russland (nach Peter Laudenbach (8)).
Der Spielausgang ist ungewiss und bietet Chancen; das Spiel ist daher spannend und strebt nach Entspannung. „In dieser Spannung werden die Fähigkeiten des Spielers auf die Probe gestellt: seine Körperkraft, seine Ausdauer, seine Findigkeit, sein Mut, sein Durchhaltevermögen und zugleich auch seine geistigen Kräfte, insofern er sich bei all seinem feurigen Bestreben, das Spiel zu gewinnen, innerhalb der Schranken des Erlaubten halten muss, die das Spiel vorschreibt“ (s. (5), S. 20). Im Spiel gelten andere Gesetze und Gebräuche als im gewöhnlichen Leben (vgl. auch Saturnalien, Karneval, Studentenstreiche, Initiationsfeste etc.). Oft wird diese Sonderstellung des Spiels durch ein Geheimnis hervorgehoben, das nur die Spieler kennen. „Das Anderssein und das Geheime des Spiels findet sichtbarsten Ausdruck in der Vermummung“ ((5), S. 22).
Huizinga fasst die Definition von Spiel so zusammen:
„Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als „nicht so gemeint“ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft, die von einem Gefühl der Spannung und der Freude, evtl. sogar Begeisterung bzw. „Heiligem Ernst“ begleitet wird und die Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben“ ((5), S.22).
Spielelemente im Gemeinschaftsleben und in der Kultur
Spiele überführen das Unüberschaubare in Ordnung ohne in ihr zu erstarren. Ein spielerisches Element kann in vielen Bereichen des Gemeinschaftslebens in Erscheinung treten:
- im Erlernen und Weiterentwickeln von Fähigkeiten
- im Wetteifer und Wettkampf
- im Liebesspiel
- in Rollenspielen
- in Kultspielen und Festen
- in der Wirtschaft und Politik
- im Rechtstreit
- bei Jagd und Krieg und Sport
- in Philosophie und Wissenschaft
- in Dichtung, Musik und anderen Künsten
- in der Freizeit
- bei der Arbeit<7>, ((12a) bei Arbeitslosigkeit)
Zu (1): Erlernen und Weiterentwickeln von Fähigkeiten
Die Funktion des Spiels ist – nicht nur beim Kind – die Einübung von Fertigkeiten und Rollen. Im Spiel erfahren wir unsere Emotionen und lernen Frustrationen auszuhalten.
Zu (2): Wetteifer und Kampf
Auch die Jagd, der nicht um die nackte Existenz geführte Kampf und manche Initiationsriten sind bzw. waren ein an bestimmte Regeln gebundenes Erproben der Fähigkeiten, der Geschicklichkeit und des Mutes – ein Wettkampf eben. Man will gewinnen, aber dabei geht es vorrangig um etwas Ideelles. Wichtig ist, dass das Spiel als solches gelingt, so dass alle Teilnehmer (und die Götter) befriedigt bzw. beglückt sind (s. (5), S. 58). Beim Gewinnen geht es darum Ansehen und Ehre erlangen. Das wird auch besonders bei den Potlatch-Spielen deutlich. Mit dem Sieg wird auch das Spiel und seine Spielregeln verherrlicht – und nicht nur das. „Mit jeder gut durchgeführten Feierlichkeit, jedem gewonnen Spiel oder Wettkampf und besonders mit den heiligen Spielen ist für die archaische Gemeinschaft die intensive Überzeugung verbunden, dass durch sie eben für die Gruppe Heil und Segen erworben wird.“ (s. (5), S. 66). „Jeder Sieg vergegenwärtigt, d. h. verwirklicht für den Sieger den Triumph der guten Mächte über die bösen und bewirkt so das Heil der Gruppe.“ Auch das reine Glückspiel kann so göttliches Wirken bedeuten und göttlichen Willen anzeigen (s. (5), S. 68). Die heutige Form des Wettkampfes, der Sport, von Frankl als die moderne Form der Askese bezeichnet, lässt den früheren sakralen Charakter des Spiels nicht mehr so deutlich hervortreten. Bemerkenswert ist aber seine starke Identität stiftende Wirkung. Auch ist die Einhaltung der Regeln „heilig“. Ein Spiel muss immer ein „fair play“ sein, ansonsten ist es ein „falsches Spiel“ und verstößt somit gegen die Ordnung und ist dann auch kein Spiel mehr.
„Vom Kinderleben an bis zu den höchsten Kulturbestätigungen wirkt als eine der mächtigsten Triebfedern zu Vervollkommnung des einzelnen und seiner Gruppe der Wunsch, seiner Vortrefflichkeit wegen gepriesen und geehrt zu werden“ „Zur Ablegung des Beweises der Überlegenheit dient der Wetteifer, der Wettstreit“ (s. (5), S. 75). Der Ehre würdig erweist man sich durch seine Tugend – ein Wort, das von „taugen“ kommt, so wie das entsprechende griechische Wort Arete (’αρετή) von Aristos (’άριστος), „der Beste“, oder der entsprechende lateinische Begriff virtus von „männlicher Tapferkeit“. „Kraft und Gesundheit sind die Tugenden des Körpers, Klugheit und Einsicht die des Geistes“. Weiter meint Aristoteles: „Die Menschen streben nach Ehre, um sich von ihrem eigenen Wert, ihrer Tugend, zu überzeugen. Sie streben danach, von Urteilsfähigen auf Grund ihres wirklichen Wertes geehrt zu werden ((9), zitiert in (5)).“ „Spiel ist Kampf und Kampf ist Spiel“. So gesehen ist jede Prüfung ein Wettkampf. Da nach Viktor Frankl das Leben Aufgabencharakter hat, könnte man das ganze Leben als Wettkampf-Spiel ansehen. Aber dann gibt es keine Grenzen mehr zwischen Spiel und Ernst und der Begriff des Spiels wäre überflüssig.
Zu (3): Liebesspiel
Das Minnespiel, die Liebeswerbung, der Anreiz zur Paarung, erfolgen spielerisch. Beispiele dafür sind das Bewältigen von Aufgaben, das Aufrichten von Hindernissen (z. B. das Lösen von Rätseln), Scheinkämpfe (z. B. die jap. Kissenschlacht (Shindai Sutram)), das Überraschen, das Sich-zieren etc. (vgl. auch (5), S. 54).
Zu (4): Rollenspiele
Nicht nur in der Partnerbeziehung sondern allgemein im sozialen Leben und – last not least – auch bei den heiligen Handlungen finden Rollenspiele statt. Rollenspiele mit Verkleidungen erfreuten die Menschen schon früher z. B. bei Tournieren, Karussels, Schäferspielen und sonstigen Mummenschanz und heute noch im Karneval und bei der Mode. Nach Virginia Satir (10) trägt jedes Mitglied einer Gruppe mehrere „Hüte“, d. h. er spielt verschiedene Rollen gleichzeitig. Auch bei der Kommunikation konkurrieren verschiedene „Rollen“ miteinander wie z. B. beim „inneren Team“ nach Friedemann Schulz von Thun ((11)).
Zu (5): Kultspiele und Feste
„Im Spiel „spielt“ etwas mit, was über den unmittelbaren Drang nach Lebensbehauptung hinausgeht und in die Lebensbetätigung einen Sinn hineinlegt. …. Mit dem Spiel erkennt man den Geist. .. Spielend springt der sprachschöpferische Geist immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten hinüber. Hinter jedem Ausdruck für etwas Abstraktes steht eine Metapher und in jeder Metapher steckt ein Wortspiel“ schreibt Huizinga. Durch Metapher und Mythos wird eine zweite Welt neben der Natur erschaffen. Die Götter, das kosmische Geschehen und das Leben werden durch Spiel gedeutet und bei Festen im Spiel nachgeahmt. Magische Praktiken sollen das chaotisch Dunkle und Irrationale in eine heilsame Ordnung bringen. An diesem Kult-Spiel nimmt in der Regel die ganze Gemeinschaft teil und erfährt durch die Verbildlichung des heiligen Geschehens und durch seine stellvertretende Verwirklichung ihre Identität. Manchmal müssen in einem fest gelegten Rahmen besondere Aufgaben gelöst und Kämpfe bestanden, d. h. Spiele gewonnen werden – wie z. B. auch bei Initiationsriten und Brautwerbung (s. (5) S. 12-13).
Zu (6): Rechtsstreit
Auch der Rechtsstreit ist ein an feste Regeln gebundener, an einem „geheiligten Ort“ ausgetragener Wettstreit, bei dem es oft vorwiegend um den Gewinn von Ehre und „das Prinzip“, also die geheiligte Ordnung, geht. Gekämpft wird mit Worten und der Ausgang ist oft ungewiss – wie bei einem Glücksspiel. Früher hat sogar das Los, ein Glückspiel, ein Gottesurteil, ein Orakel, ein Kampf, ein Duell – auf jeden Fall ein Spiel entschieden und die (Rechts-) Ordnung wiederhergestellt – und damit, archaisch gedacht, dem Willen der Götter genügt (vgl. (5) S. 89ff).
Zu (7): Kampf, Jagd und Sport
Der Kampf mit den Waffen, sofern er beschränkenden Regeln folgt und den Gegner als gleichberechtigt anerkennt, hat den Charakter eines Wettkampfes bzw. eines Rechtsstreits, in dem es auch immer um Ruhm und Ehre geht. Gelten keine einschränkenden Regeln mehr und wird der Gegner als minderwertig angesehen wie z. B. beim Überfall, beim Partisanenkrieg, beim Genozid oder beim totalen Krieg, so geht mit den Spielmodalitäten auch der letzte Rest von Menschlichkeit im Krieg verloren. Dem gegenüber steht das Ideal vom Helden, vom Ritter, vom Samurai, der die Auffassung vertritt, „dass das, was für einen gewöhnlichen Menschen Ernst ist, für den Tapferen nur Spiel sei“ – aber dafür eben oft ein heiliges Spiel. ((5) S. 116). Den Ritter und Samurai zeichnen Mut und Treue aus. „Treue ist die Hingabe an eine Person, Sache oder Idee, ohne die Gründe für diese Hingabe weiter zu diskutieren“ ((5) S. 117). Das hat die Treue mit der Liebe, aber auch mit dem Wesen des Spiels gemein.
Während heute der Krieg nicht mehr diesen heiligen, nicht hinterfragbaren Regeln folgt, hat in unserer Zeit der Sport, der sportliche Wettkampf, die Rolle des ritterlichen Kampfes der Helden um Ruhm und Ehre übernommen, was auch dadurch deutlich wird, dass hier die Sprache des Kampfes gesprochen wird: es wird geschossen, gekämpft, bezwungen, gesiegt etc.
Zu (8): Wirtschaft und Politik
Im Barock und Rokoko wird das der Politik eigene spielerische Element in der Kabinettspolitik mit ihren Intrigen und Abenteuern und der Bildung von Klubs und Geheimbünden besonders deutlich. „Die Politik hat immer noch recht viel von einem Glücksspiel an sich, und das Herausfordern und Aufreizen, das Bedrohen und Beschimpfen des Gegners, das Riskieren, wie weit zu gehen er sich wohl getrauen mag, ist in ihr in reichlichem Maße vorhanden“ ((5), S. 202).
„Der Handelswettbewerb blieb anfangs in seinen Formen primitiv….Erst durch den modernen Verkehr, die kaufmännische Propaganda und die Statistik wird der Handelswettbewerb intensiv“ (z. B. “Blaues Band“) ((5) S. 216). Spielerische Elemente tauchen in der Werbung und in Kreativitäts-Workshops auf, die Innovationen fördern sollen. Man denke z. B. an das Brainstorming-Seminar, bei dem es darum ging, Walnüsse so zu knacken, dass die unter der Schale liegende Nussfrucht nicht beschädigt wurde. Über den spaßigen, spielerischen Gedanken, ein Männchen in die Nuss zu bringen, der von innen die Nuss öffnen sollte, kam man zur Lösung, das Problem mit in die Nuss geleiteter Pressluft zu sprengen. Jens Bergmann berichtet, dass kürzlich das still gelegte Bergwerk Göttelborn im Saarland mit 100 Mio € „Spielgeld“ zu einem Ideen-Spielfeld umgestaltet wurde. Wissenschaftler, Studenten, Künstler und hoch begabte Kinder wurden eingeladen, um Wissen, Kreativität, Ideen und deren Verarbeitung zu Tage zu bringen. Im Spielfeld Göttelborn übernehmen die Mitspieler unterschiedliche, im Konflikt liegende Rollen wie Bürgermeister, Projektleiter, Investoren etc und spielen ein Spiel, ähnlich wie „Monopoly“ oder die „Siedler von Catan“. Gewinner ist der, der genügend Mitstreiter findet und der so am weitesten mit seinen Plänen kommt. Dieses Spiel erbringt keine verwertbaren Ergebnisse, sondern transportiert nur die Botschaft: „Hier darf man spinnen!“ Und das lockt angeblich interessante Leute mit Ideen an. Im Stadtteil Schulzenfeld von Völklingen mit einer in Auflösung und Verfall liegenden Werkswohnsiedlung ist Spielen mit Planung und Architektur erlaubt: In dem Spiel „Anliegen frei“ „darf an-, um- und neu gebaut werden, solange der Gesamteindruck nicht leidet…. Die Mitspieler schlagen unabhängig voneinander ihre Anliegen vor, bewerten sie alle gegenseitig und handeln die Realisierung aus. Je positiver eine Idee bewertet wird, desto mehr soziale Rendite kann mit ihrer Umsetzung erzielt werden. Das Ergebnis sei eine „Art Entscheidungsökonomie“ für die Bewohner der Siedlung. Ein Vorteil des Spiels sei seine Unverbindlichkeit, die die Freiheit zu denken ermöglicht. Entsprechendes wurde in Leipzig entwickelt: das Netzwerk Südost und das von dem Tischler, Sozialarbeiter und Regionalmanager Georg Pohl erfundene, von der Unesco ausgezeichnete Spiel „Xaga“ (Herstellung von Häusern, Fabriken, Parks etc. aus Knetgummi). Pohl ist „davon überzeugt, dass Spiel für viele gute Zwecke nützlich sind: Stadtentwicklung und Stadtmarketing, Jugendarbeit, Personalentwicklung – die ganze Welt lasse sich auf spielerische Weise verbessern.“ Managementberater Tom Werneck meint sogar: „Spiel und spielerische Verfahren werden unsere Gesellschaft schon in kurzer Zeit einschneidender verändern als der Computer in den vergangenen 30 Jahren.“ (12). Eine schon in den 20-er Jahren verwirklichte Idee einer Spiel-ähnlichen Parallel-Ökonomie sind die Tauschringe.
Zu (9): Philosophie und Wissenschaft
Nach festen Regeln gekämpft wird nach Huizinga auch im gegenseitigen Fragenstellen, im Wettstreit, die Rätsel der Welt zu lösen, im wissenschaftlichen Streitgespräch und Diskurs (z. B. Martin Luther und Johannes Eck). In der archaischen Religion und in der Philosophie geht es um den Streit zwischen polaren Urgegensätzen. Der Stil und die Form dieses Streites haben viel mit dem Spiel gemeinsam. Dieser wissenschaftliche, philosophische Wettkampf schafft Ordnung in einer komplexen, sonst unbegreiflichen Welt. Mehr zur Unterhaltung stellen die Sophisten ihren Scharfsinn zur Schau in Wortfechtereien und mit ihren Fertigkeiten, andere durch Fallstrickfragen reinzulegen. „All diese Fangschlüsse beruhen auf der Bedingung, dass das Feld logischer Gültigkeit stillschweigend auf einen Spielraum beschränkt wird, von dem man annimmt, dass der Gegner sich an ihn hält, ohne ein „Ja, aber!“, das das Spiel verdirbt, einzuwerfen.“ ((5) S. 163). Man denke an den Witz: „Du hast Hörner, denn du hast ja keine Hörner verloren – also hast du sie noch!“ ((5) S. 169). Mit den Sophisten und anderen griechischen Philosophen beginnt eine philosophische und wissenschaftliche Polemik-Kultur, in der sich oft spitzfindig argumentierende Redekunst mit spielerischem Wettkampf paaren und die sich über das Zeitalter der Scholastik und des Humanismus, über die Salons des Rokoko bis in die Neuzeit erstreckt. Wissenschaftliche Versuche haben viel mit Spiel gemeinsam. „Der Urquell aller technischen Errungenschaften ist die göttliche Neugier und der Spieltrieb des bastelnden und grübelnden Forschers“ sagt Albert Einstein ((13) zitiert nach (5)).
Zu (10): Dichtung, Musik, Tanz und andere Künste
Eine besondere, Ordnung stiftende Funktion hat die Dichtung und die Musik. „Zauber-sprüche, sakrale Gesänge, Lyrik, Komödien (entstanden im Rahmen der Dionysosfeste!) Tragödien (gespielter Gottesdienst àKatharsis!), Minnewettstreit, Lehrgedichte, Per-sonifizierungen von Abstrakta, Schaffung von Allegorien, großes Welttheater – alles erwächst im Spiel: „im heiligen Spiel der Gottesverehrung, im fantastischen Mythus, im festlichen Spiel der Werbung, im streitbaren Spiel des Wetteiferns auch mit Prahlen, Schimpf und Spott, im Spiel des Scharfsinns und der Fertigkeit“ ((5) S. 142). Die Sprache spielt „linkshirnig“ mit Bildern und die Musik „rechtshirnig“ mit Stimmungen. „Wer „Sprachdorn“ für Zunge, „Boden der Windhalle“ für Erde, „Baumwolf“ für Wind sagt, gibt seinen Hörern damit ein poetisches Rätsel auf, das sie stillschweigend lösen“ ((5) S. 149).
Die Welt der Dichtung ist anders als die Realität, aber geheimnisvoll und spannend – genau wie das Spiel. Sie spielt auch mit wahnsinnigen Übertreibungen, Prahlereien, Scherz, Witz und Spott. Sie findet immer wieder statt im Rahmen von Wettkämpfen (in der Antike und auch bei uns: Sängerstreit auf der Wartburg, Meistersinger, Bestseller-Listen!).
Das Lyrische ist mit seiner Sprachmelodie und seinem Sprachrhythmus dem Tanz und der Musik am nächsten ((5) S. 157). Die Musik ist aber eng mit der kultischen Feier des Sakralen verbunden. In Platons „Gesetzen“ heißt es: „Die Götter haben aus Mitleid für die zum Leiden geborene Menschheit als Ruhepausen für ihre Sorgen Dankesfeste eingesetzt und den Menschen die Musen, Apollo, den Musenführer, und Dionysos als Festgenossen gegeben, damit dadurch diese göttliche Festgemeinschaft die Ordnung(!) der Dinge unter den Menschen stets wiederhergestellt wird“. Platon weist weiterhin darauf hin, „wie alle jungen Geschöpfe ihren Körper und ihre Stimme nicht stillhalten können, wie sie vor Vergnügen sich bewegen und Lärm machen, springen, hüpfen, tanzen und allerlei Laute ausstoßen müssen.“ „Die Tiere aber kennen in allem diesen nicht den Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung, der Rhythmus und Harmonie heißt. Uns Menschen ist durch die Götter, die uns als Genossen im Reigen beschieden sind, die von Genuss begleitete Unterscheidung von Rhythmus und Harmonie gegeben“ ((14) zitiert nach (5)). Musik war zuerst „heilige Potenz“ und „emotionale Erregung“, später „sinnvolle Lebenserfüllung“ und „Ausdruck eines Lebens-gefühls“ ((5), S. 204).
Friedrich Schiller nahm an, dass der Mensch durch seinen Spieltrieb die Kluft zwischen der Verankerung in der Wirklichkeit (durch seinen sinnlichen Trieb) und den Prinzipien der Ordnung und Moral (durch seinen Formtrieb) überwinden kann, indem er im Spiel beides verbindet. Spiel hat nach Schiller eine zugleich ästhetische und moralische Qualität. „Der sinnliche Trieb will, dass Veränderung sei, dass die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, dass die Zeit aufgehoben, dass keine Veränderung sei.“ Der Spieltrieb sei nun „dahin gerichtet, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren“ ((15) S. 315 (Schiller 14. Brief)). Der sinnliche (Stoff-)Trieb ist auf Erhaltung des Lebens, der Formtrieb auf Bewahrung der Würde ausgerichtet ((15) S. 319 (Schiller 14. Brief)). „Die Schönheit ist das gemeinschaftliche Objekt beider Triebe, d. h. des Spieltriebs. … Da sich das Gemüt bei Anschauung des Schönen in einer glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz und dem Bedürfnis befindet, so ist es eben darum, weil es sich zwischen beiden teilt, dem Zwange sowohl des einen als des anderen entzogen“ ((15) S. 319 (Schiller 14. Brief)). „Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ ((15) S.320 Schiller 15. Brief).
Das Nichtdeterminierte und das Mysterium sind nur in der Kunst, im Symbol, im Spiel erfahrbar. Insofern ist auch eine „Theologia ludens“, der in der Evangelischen Akademie Bad Boll eine umfangreiche Fortbildungsveranstaltung gewidmet war, eine logische Konsequenz.
Auch wenn die plastische Kunst, die Malerei und die Architektur nicht durch die 9 Musen vertreten wurden, weil diese Künste mehr als Handwerk angesehen wurden, so kann doch das spielerische Element bei diesen Künsten nicht übersehen werden. Man denke nur an Moore, Picasso, Klee, Hundertwasser, die Wasserspeier an den gotischen Kathedralen, die Lust-Pavillons des Rokoko, die Irrgärten und Parks, die mit der Natur spielen. Kunst und Technik, Fertigkeit und Formenskraft liegen in der archaischen Kultur noch ungeschieden in dem ewigen Trieb, zu übertreffen und einen Sieg zu erringen.“ So wohnt auch dem Kunststück, dem Probestück, dem Meisterstück ein Spielelement bei. Von Anfang an hat das „heilige“ Kunstobjekt, der Tempel, der Dom, eine Spieler-Gemein-schaft (Schüler, Freimaurer) um einen Meister versammelt, wie es auch heute die verschiedenen Kunstrichtungen tun, die auf „ismus“ enden (5).
Zu (11): Freizeit
Die Freizeit kann der „Zerstreuung“ (evtl. der „Dereflexion“) und körperlich-psychischer Erholung dienen. Sie kann aber auch zur geistigen Erfrischung genutzt werden. Das meint Aristoteles, wenn er die Muße als den Urgrund von allem bezeichnet, die der Arbeit vorzuziehen und ihr Ziel (τέλος) ist. „Der Genuss (der das Glück bringt) ist dann der beste, wenn der Mensch, der genießt, der beste ist und wenn sein Streben das edelste ist“ ((16) zitiert nach (5)). Es geht um die Entfaltung der Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft (πόλις) durch die Entwicklung der Tugenden. Dazu gehört insbesondere, dass man sich geistig mit Dingen beschäftigt, die keinen unbedingt praktischen Nutzen haben, dass man also „spielt“ wie z. B. beim musischen Spiel oder beim philosophischen Gespräch (Symposion). Die Griechen sprechen von Scholē (σχολή). σχολή heißt eigentlich: Anhalten, Rast und sie sagen Scholēn agein (σχολήν ’άγειν), d. h. Muße aktiv verbringen (’άγειν= eine bestimmte Richtung geben), wenn sie ausdrücken wollen, dass sie die Muße bzw. Zeit genießen wollen. Es handelt sich bei der σχολή nicht nur um freie Zeit „von“, sondern in erster Linie um freie Zeit „zu“ etwas.
Wir leben in einer Freizeit-Gesellschaft, in der naturgemäß Spielen einen hohen Stellenwert genießt. Hier werden Spiele über Spiele angeboten, auch solche, die ein Parallel-Leben ermöglichen: z. B. paradiesisches Leben in Clubwelten (Club Med) oder ein Leben in einem virtuellen Parallel-Universum zusammen mit 330 000 Mitspielern bei dem offenen Multiplayer-Online-Rollenspiel „Second Life (SL)“, bei dem sich jeder Mitspieler die absurdesten Wünsche erfüllen kann. Das Spiel bietet „Freiheit bei gleichzeitiger Strukturierung des sozialen Austausches durch Regeln, auf die sich alle Beteiligten verständigt haben“. (17). Und so werden heutzutage immer neue Spiele, vor allem elektronische Spiele, erfunden und damit die Kindheit fortgesetzt und gleichzeitig die kindliche Kreativität eingeschränkt!
Zu (12): Arbeit
Zunächst scheinen sich Arbeit und Spiel genauso gegensätzlich zueinander zu verhalten wie Ernst und Spaß. Immerhin kann aber – wie das Spiel – Arbeit Spaß machen und bei vielen Künstlern und Wissenschaftlern lagen schon immer Arbeit, Spiel und Spaß nahe bei einander. Mihaly Csikszentmihalyi stellte fest, dass Nobelpreisträger und andere kreative Persönlichkeiten der Meinung waren, sie hätten eigentlich in jeder Minute ihres Lebens gearbeitet. Genau so gut ließe sich aber auch sagen, dass sie keinen Tag in ihrem Leben gearbeitet hätten (18). Die Arbeit war für diese Personen offenbar nicht lästig, sondern lustvoll – vielleicht wie ein Spiel.
Es bestehen eben oftmals mehrere Gründe nebeneinander für meine Arbeit, die dann bei mir ganz unterschiedliche Empfindungen auslösen können. Ich kann meine Arbeit unter unterschiedlichen Aspekten betrachten:
- Arbeit als Mühe
- Arbeit als Notwendigkeit und Zwang
- Arbeit als Kraft- und Kompetenztraining
- Arbeit als Hilfe bei der Strukturierung der Zeit
- Arbeit als Selbstbestätigung
- Arbeit als Notwendigkeit für Karriere und Image-Zuwachs
- Arbeit als Vorwand
- Arbeit als Spiel
- Arbeit als Zeitvertreib und Abwechselung
- Arbeit als Unterhaltung und Kontaktvermittlung
- Arbeit als Glückserlebnis (= „Flow“ nach Mihaly Csikszentmihalyi)
- Arbeit als Herausforderung und befriedigende Sinnstiftung
Wenn ich Arbeit z. B. nur und ausschließlich als Mühe empfinde, wird es mir schwer fallen, in dieser Arbeit einen Sinn zu sehen. Es kann mir aber eine Arbeit große Mühe machen und für mich doch zugleich sehr sinnvoll sein. Gerade dann, wenn ich mich maximal bei einer solchen Arbeit eingebracht habe, kann sich bei oder nach der Arbeit ein Gefühl von Zufriedenheit und Glück oder ein „Flow“-Erlebnis einstellen. Es fällt dagegen schwerer, einen Sinn in einer Arbeit zu erkennen, die für mich nur einen Zeitvertreib darstellt. Zwischen „Arbeit als Mühe“ und „Arbeit als Zeitvertreib“ ist irgendwo „Arbeit als Spiel“ angesiedelt.
Der „Flow“-Forscher Csikszentmihlyi weist darauf hin, dass Arbeit viel eher Spielcharakter hat als die meisten anderen Tätigkeiten; denn bei beiden gibt es:
- klare Ziele und Ausführungsregeln
- Feedback
- Konzentration und keine Ablenkung
- Kontrolle über die Aufgabenerledigung.
Wie bereits erwähnt wurde, hat die künstlerische und die wissenschaftliche Arbeit viel mit dem Spiel gemeinsam. Sie widmet sich zyklusartig bestimmten Projekten. Sie weist oft eine gewisse Freiwilligkeit auf, sie gewährt einen Handlungsfreiraum, sie bietet Möglichkeiten, seine Kreativität entfalten zu können, und sie vermittelt relativ häufig Befriedigung, „Flow“-Erlebnisse und Freude an den Ergebnissen. Gerade bei künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit wird mit jeder vollendeten Arbeitsphase ein Zuwachs an Erfahrungen und Fähigkeiten gewonnen, der für den weiteren beruflichen Werdegang förderlich ist. Künstlerische und wissenschaftliche Arbeit weist also sehr häufig fast alle Aspekte eines „Spiels“ auf.
Als extremes Beispiel dafür, wie nahe Arbeit, Spiel und Sinnfindung beieinander sein können, möchte ich den Bericht von Marten DeVries aus einer Niederländischen Psychiatrie anführen, so wie ihn Csikszentmihlyi mitteilt ((18) S. 57-58). Bei den in dieser Klinik routinemäßig durchgeführten Testen auf „Flow“-Erlebnisse (mit der Experience Sampling Method) fiel bei einer an chronischer Schizophrenie leidenden, schon seit über 10 Jahren hospitalisierten Patientin in zwei Testen auf, dass sie einigermaßen positiv gestimmt gewesen war, als sie sich die Fingernägel geschnitten hatte. Daraufhin wurde diese Patientin von einer Maniküre angeleitet, so dass sie auch anderen Mitpatienten die Nägel schneiden konnte. Mit deutlich gebesserter Stimmungslage konnte sie schließlich entlassen werden und sich als selbstständige Nagelpflegerin selbst versorgen. War für sie das soviel Spaß bereitende Nagelschneiden ein Spiel oder war es Sinnerfüllung? Wer weiß! Vielleicht war es beides zugleich.
In der modernen Arbeitswelt kommt es öfter, dass sich Arbeit und Spiel nicht mehr scharf voneinander trennen lassen, z. B. beim Sport, in der Unterhaltungsindustrie, im Multi-Media-Bereich, beim Marketing etc. Die Konkurrenz in der heutigen Wirtschaft bewirkt in zunehmenden Maße eine Wettkampf-Situation. Dieses Wettkampf-Spiel weitet sich dann meist auch auf die Mitarbeiter einer Firma aus.
Moderne Arbeit erfordert immer weniger eine auf die ganze Lebensarbeitszeit ausgerichtete Berufausbildung, dafür aber immer mehr Flexibilität und Ausweitung der Fertigkeiten, um einen neuen Arbeitszyklus beginnen zu können. Nach Steinbuch ist die Bereitschaft des Menschen, sich belehren zu lassen, gering. Dagegen ist sein Spieltrieb unbändig. Daher lernt er spielend am leichtesten. Das Spiel macht zudem den Menschen offen für die Gemeinschaft der Mitspieler und fördert somit die soziale Vernetzung. So lässt z. B. der Geschäftsführer der Unternehmensberatung Frankfurt Economics Führungskräfte mit Lego-Steinen spielen. Das „Lego Serious Play“ ist für ihn „ein Werkzeug, mit dem wir bei Teamfindungsprozessen und bei der Strategiefindung arbeiten“. Die Spielsituation soll „verhärtete Routinen und Denkblockaden aufbrechen“ (17). Das Spiel bietet – wie das Kinderspiel – die Möglichkeit, sich die heute geforderte Flexibilität und Beherrschung immer neuer Fertigkeiten anzueignen. Moderne Arbeit ist sehr stark auf dynamische Kommunikation und soziale Kooperation ausgerichtet. Man spricht sogar von einem globalen „Kommunikations-Zeitalter“. Der Computer und das Internet sind die Spielwiese und zugleich Kulturplattform und Arbeitsfeld für den „global player“. Wieder besteht also eine Parallele zum Spiel. Inwieweit Unabhängigkeit von äußeren Zwecksetzungen und Zwängen, Handlungsfreiheit und Spaß bei der Arbeit realisierbar sind, hängt sehr stark von den Arbeitsbedingungen, aber auch von der inneren Einstellung des Arbeitenden ab!
Es gibt Beispiele, die Menschen uns geschenkt haben, die zeigten, dass selbst unter extremen Arbeitsbedingungen mit viel Zwang, wenig Handlungsfreiheit und fehlendem „Spaß“ Arbeit gewissermaßen als Spiel aufgefasst und dadurch besser bewältigt werden kann.
Als erstes derartiges Beispiel möchte ich das Spiel-Verhalten des Fließbandarbeiters Rico anführen, das Csikszentmihlyi in seinem Buch „Lebe gut!“ ((18) S. 139-140) beschreibt. Rico hatte am Fließband vierhundertmal am Tag im 43 Sekunden-Takt das Lautsprechersystem von Kameras zu prüfen – eigentlich eine langweilige Arbeit. Aber „mit der Eleganz eines Virtuosen“ experimentierte er solange, bis er die Überprüfungszeit jeder Kamera auf 28 Sekunden gesenkt hatte. „Auf diesen Erfolg war er ebenso stolz, wie es ein Olympiasportler gewesen wäre, wenn er die gleiche Anzahl von Jahren damit verbracht hätte, die 44-Sekunden-Marke im 100-Meter-Lauf zu unterschreiten.“ Rico stimulierte übrigens dieser Erfolg, sich in einer Abendschule in Elektrotechnik beruflich weiter zu bilden.
Ein Beispiel für ein Spielanalogon unter Extrembedingungen findet sich in Viktor Frankls Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ (19). Frankl schreibt, er habe sich während der mörderischen Arbeit im KZ intensiv vorgestellt, er würde in einem gepflegten Hörsaal einen Vortrag halten über das, was er da gerade bei dieser Arbeit erlebt. Er behauptet, dass es ihm infolge dieses Gedanken-„Spiels“ gelang, sich von der ganzen Pein ein wenig zu distanzieren und so einen wichtigen Beitrag zu seinem Überleben zu leisten.
Diese beiden Beispiele zeigen uns, dass es vorteilhaft sein kann, auch da noch bei der Arbeit nach Spiel-Aspekten zu suchen, wo wir gewöhnlich die gedankliche Verknüpfung mit einem „Spiel“ weit von uns weisen würden. Gar zu häufig pflegen wir das Spiel abzuwerten und es ausschließlich als etwas nicht Ernsthaftes, nicht Nützliches oder gar Verwerfliches anzusehen – wahrscheinlich eine Folge der sich immer stärker durchsetzenden calvinistischen und pietistischen bürgerlichen Arbeitsethik, denn bis in das 18. Jahrhundert hatte das Spiel – zumindest in der höfischen Kultur – einen beachtlichen Stellenwert.
Bei Diskussionen über das Thema „Arbeit als Spiel“ zeigte sich, dass Frauen sich viel schwerer damit tun, der Arbeit Aspekte eines Spiels abzugewinnen als Männer, obwohl Csikszentmihalyi meint, dass für viele Frauen Arbeit eher etwas für sie Freiwilliges sei und sie deswegen laut bestimmter Umfragen auch mehr Freude an ihrer Arbeit hätten. Wenn somit Frauen theoretisch eher ihre Arbeit als Spiel erleben könnten, scheinen gerade Frauen sich vehement dagegen zu wehren, ihre Arbeit mit Spielaspekten zu verknüpfen. Das mag daran liegen, dass der Frauenarbeit in der Evolution vorwiegend eine erhaltende und ernährende (trophotrope) Funktion zukam, während Männerarbeit mehr eingreifend schöpferisch (ergotrop) ausgerichtet war. Eine mehr auf Veränderung der Außenwelt orientierte schöpferische ergotrope Aktivität profitiert vom Spiel erheblich stärker als eine auf Bewahrung und Erhaltung bedachte konservative trophotrope Tätigkeit. Das mag der Grund dafür sein, warum Männer so oft wahre Spielkälber sind, Frauen dagegen eher selten!
Nicht bei jeder Arbeit mag die Verknüpfung mit dem Spiel gelingen. Natürlich kann man auch nicht unter Zwang spielen und Spaß haben. So stellte es eine zynische Doppelbindung dar, wenn man von seinen Angestellten auf Befehl „Leistung aus Leidenschaft“ und damit eine Spieler-Mentalität fordert. Trotzdem lohnt es sich bei fast jeder Arbeit nach vielleicht verborgenen Spiel-Momenten zu suchen, denn Flexibilität und Kreativität ist heutzutage so gefragt wie nie zuvor, weil es immer seltener eine lebenslange Fixierung auf eine bestimmte Arbeit geben wird und Beruf immer weniger als Berufung angesehen werden kann, sondern nur noch als Job. Die Jugend stellt sich offenbar darauf ein. Zumindest scheint ihre (nicht sexuelle) „Pubertät“ heute bedeutend länger anzudauern. Eine protrahierte Kindheit bietet eine längere „Spielphase“ mit der Möglichkeit, mehr Fähigkeiten und Flexibilität zu erwerben.
Auf jeden Fall setzt sich die Wirtschaftswelt intensiv mit dem Spielerischen auseinander – und das nicht nur in Assessmentcentern und bei der Personal- und Organisationsentwicklung. Man bemüht sich, bei der Arbeit entstandene interaktive Problemsituationen durch das Spiel zu verstehen und mit Hilfe des Spiels Flexibilität zu entwickeln und kreativ nach Lösungen zu suchen. Der Homo ludens schafft mehr Möglichkeiten als der gewöhnliche homo faber – egal ob diese Möglichkeiten sofort, später oder gar nicht realisiert werden!
Die Wirtschaft hat die Bedeutung des Spiels erkannt. So ist es sicher kein Zufall, dass schon zweimal der Wirtschafts-Nobelpreis für Weiterentwicklung der Spieltheorie vergeben wurde. Gerade im letzten Jahr erhielten ihn wieder zwei Spieltheoretiker, nämlich Robert Aumann und Thomas Schelling.
Es gibt noch einen weiteren Gesichtspunkt, der es nahe legt, Arbeit aus der Perspektive des Spiels zu betrachten. Heutzutage wird viel weniger für den notwendigen Gebrauch, dafür aber mehr für den Überfluss, für den Luxus und für den Spaß produziert! Arbeit dient dann häufig dem Spiel! Selbst Firmen, die einen praktischen Gebrauchsgegenstand herstellen, bieten zugleich Erlebniswelten an bis hin zum Funpark (z. B. VW). Die Erlebnis- und Spaßgesellschaft ist auch eine Spieler-Gesellschaft!
Für viele Spiele ist das Eingehen eines Risikos charakteristisch. Zumindest besteht fast bei jedem Spiel das Risiko, das Spiel verlieren zu können – abgesehen von Gedanken-Spielen.
Mit einer Spieler-Mentalität wird Risikobereitschaft gefördert. Diese muss der Produzent eingehen, wenn er investiert und neue Produkte entwickelt und diese benötigt der Konsument, wenn er sich z. B. in ein Auto setzt, um nur aus Spaß durch die Gegend zu fahren, oder wenn er eine Hypothek für sein (nicht lebensnotwendiges) Eigenheim aufnimmt. Aber auch der Eigentümer der Produktionsstätte, der Aktionär ist ein Spieler, wenn er mit seinem Geld spekuliert. Alle folgen dem Motto: No risk – no fun!
Wenn es gelingt, bei meiner Arbeit Spielaspekte zu entdecken, so kann ich die Arbeit anders bewerten. Sie könnte mir dann wohl spannender erscheinen und mehr Freude machen. Es würde mir wohl auch leichter fallen, meine Flexibilität und Kreativität zu steigern. Die Extrembeispiele von Csikszentmihalyi und Frankl zeigen, dass man auch da noch Spielaspekte bei der Arbeit herausfiltern bzw. einbringen kann, wo man es zunächst für unmöglich halten würde.
Zu (12a): Arbeitslosigkeit
Aber was wird aus dem Spiel „Arbeit“, wenn ich arbeitslos werde? Man hat dann keinen Platz mehr, wo man hingehört. Die Ordnung schaffende Arbeit fehlt. Arbeit scheint sich zur Arbeitslosigkeit so zu verhalten wie Struktur zu Strukturlosigkeit bzw. wie Ordnung zum Chaos!
Wenn ich auch noch so sehr von meinem „Arbeitsspiel“ fasziniert sein mag (Leistung aus echter Leidenschaft!), weiß ich als Spieler, dass irgendwann dieses Spiel abgeschlossen sein wird. Spätestens der Tod beendet jedes Spiel! Spielen heißt auch verlieren und loslassen zu können – solche und andere Risiken lassen sich nicht ausschließen. Vom Spiel Abschied nehmen zu müssen ist auch ein bisschen wie Sterben: Partir, c` est mourir en peu. Angesichts eines solchen „Memento mori“ kommt die Erkenntnis auf, dass alles, was wir haben, nur vorläufig oder vorrübergehend vorhanden ist, als sei es nur für eine Spielrunde verfügbar. Erklären wir uns zu einem solchen Spiel-Risiko bereit und akzeptieren wir die vorgegebenen Spielregeln, so entsteht daraus Freiheit! Spielen zu können, bedeutet frei zu sein und über ein gerade entstehendes Chaos Filter zu schieben, die Ordnungsstrukturen schaffen. Der Sinn eines Spiels liegt immer darin, in einer zufällig entstandenen und vielleicht misslichen Situation kreativ deren Optimierung anzustreben.
Wenn es mir von Anfang an gelungen sein sollte, meine Arbeit durch die „Spielbrille“ zu sehen, bin ich eher bereit, die Frustration einer auslaufenden Tätigkeit oder sogar eine Arbeitslosigkeit zu ertragen. Wenn ich weiß, dass ich mich jetzt für ein neues „Spiel“ bereit machen muss und gleichzeitig anerkennen kann, dass ich bei dem auslaufendem „Spiel“ viel dazu gelernt habe, verbessere ich meine Aussichten, ein neues „Spiel“ zu gewinnen. Im gedanklichen Spiel mit den Möglichkeiten kann ich mich auf eine neue „Spielrunde“ vorbereiten! Vielleicht kann ich mich dann sogar auf ein neues „Spiel“ freuen! Damit werde ich im Falle einer auf mich zukommenden Arbeitslosigkeit ein „down-sizing“ eher vermeiden können – im Gegenteil: mental bin ich sogar auf ein „up-sizing“ vorbereitet. Wenn es gelingt, die Arbeit als Spiel anzusehen, ist die Beendigung dieser Arbeit nur das Ende eines Spiels, vielleicht eines verlorenen Spiels. Meine Person und meine Identität werden aber dadurch nicht beschädigt. Ich werde dann kaum entwurzelt und ich falle auch in keine Arbeitslosig-keits-Neurose; denn ich werde mich leichter von dem Verlust distanzieren können. Ich bin nicht die Arbeit, die ich hatte. Es ist nur ein „Spiel“ beendet worden. Es wäre gut für mich und meine Umwelt, wenn ich neue Spiele erfinden oder alte Spiele wie z. B. einen Tauschring mit neuem Leben erfüllen könnte. Ich könnte einen Tauschring aktivieren mit neuen Vertrauen stiftenden Maßnahmen über Internet oder Spiel- und Gesellschaftsabende. Auf jeden Fall kann ich wieder frei werden für die Suche nach neuen Wert- und Sinn-verwirklichungen.
Spiel in der Psychotherapie
Wie Hermann Hesse in seinem Alterswerk „Das Glasperlenspiel“ (20) beschreibt und wie das entsprechende Gedicht des Glasperlenspielmeisters Josef Knecht verdeutlicht, verläuft das Leben in „Stufen“:
„Und in jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Und weiter heißt es:
„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.“
Diese Stufen entstehen dadurch, dass eine alte Ordnung aus den verschiedensten Gründen ausgedient hat und nun ein Phasenübergang in eine neue Ordnung ansteht. Eine Spielrunde ist quasi beendet und damit geht auch immer Gewohntes und Gewonnenes und lange Zeit Bewährtes verloren. Die alte Ordnung zerbricht und vor einem macht sich das Chaos breit. Nichts oder alles erscheint möglich. Die Komplexität der Welt hat augenscheinlich zugenommen. Das Chaos kümmert sich auch um keinen (schwachen) Determinismus. Die Fragen nach dem „Wieso?“, „Warum gerade jetzt?“, „Warum gerade ich?“ sind jetzt völlig sinnlos. Alle Aufmerksamkeit sollte nun dem gelten, was jetzt passiert. Die Synergetik zeigt uns, dass gerade in dieser Situation winzige Einflüsse eine große Veränderung bewirken können und daher große Aufmerksamkeit verdienen! Ein Beispiel aus der Physik mag das verdeutlichen. Prallt eine Kugel senkrecht auf eine feine Nadelspitze, so lässt sich nicht vorhersagen, in welche Richtung die auf die Nadelspitze aufsetzende Kugel weiterfällt; denn die Kugel wird immer ein klein wenig abweichend von der Schwerpunktslinie auf die Nadelspitze auftreffen – selbst wenn es sich nur um die Breite eines Moleküls handelt. Dementsprechend fallen die Kugeln immer wieder auf andere Stellen der Unterlage. Die Ursache dafür, wohin die Kugel fällt, ist winzig. Der aber durch diese winzige Ursache ausgelöste Effekt ist recht groß!
Genauso nimmt die Komplexität in einer Krise zunächst zu, weil es anfangs offen ist, wie es weitergeht. In diesem chaotischen Zustand stehen meist mehrere, zunächst völlig gleichberechtigte Möglichkeiten zur Wahl. Diese werden aber durch bestimmte, in unserem Gehirn gespeicherte Muster gefiltert. Dadurch wird die Komplexität reduziert. Bei der Betrachtung des Necker-Würfels (Abb. 4) lassen unsere cerebralen Filter nur zwei Wahrnehmungsmöglichkeiten zu, die beide völlig gleichberechtigt sind, weil sie keine unterschiedlich starken Emotionen und Assoziationen hervorrufen. Das ist anders bei einem ambiguen Bild, bei dem man z. B. abwechselnd einen Einstein-Kopf oder drei badende Nixen erkennen kann. Betrachtet man das Zentrum, so sieht man wohl vorwiegend die nackten Nixen, die die Nase und die Augen- und Jochbeinpartie bilden. Guckt man auf die Peripherie, so erscheint der Einstein-Kopf. Ein Liebhaber der Relativitätstheorie wird vielleicht eher und andauernder Einstein erblicken. Ein der weiblichen Erotik aufgeschlossen gegenüberstehender Jemand wird längere Zeit die nackten Nixen sehen. Dadurch, dass man mit beiden Varianten spielen kann, wird eine Fixierung auf die reine Wissenschaft oder auf die pure Erotik verhindert. Das alles kann unbewusst oder vorbewusst ablaufen. Der bewusste Wille, geleitet von den bewussten Anteilen des Über-Ichs und des Gewissens, tut sich schwer damit, einen der beiden Aspekte des ambiguen Bildes auszublenden. Das durch die zwei Wahrnehmungs-möglichkeiten definierte Spiel mit diesem Bild verhindert aber, dass man sich auf eine gedankliche Vorstellung fixiert, dass man in eine Hyperreflexion gerät bzw. dass man einem psychischem „Quasi-Attraktor“ anheim fällt.
Genau diesen Gefahren will der Psychotherapeut bei seinem Klienten entgegenwirken. Und genau deswegen kann das Spiel bzw. Spielaspekte in der Psychotherapie so hilfreich sein. Fixierungen auf neurotische Muster werden dadurch aufgeweicht. Letztlich bringt das Spiel durch Hineinnehmen des Zufalls Bewegung in das Leben und wirkt den lebensfeindlichen Kräften entgegen: dem Versinken im Chaos bzw. dem Stillstand infolge Erstarrung. Gleichzeitig folgt aber das Spiel genauen Regeln und schafft dadurch Ordnung und zwar eine dynamische Ordnung (Abb. 6).
Abb. 6: Das Spiel als Vermittler zwischen Chaos und Ordnung bzw. Zufall und Regel bzw. unvorhersehbarem Schicksal und Freiheit
Das Spiel ermöglicht es, die Wirklichkeit auf ein abgegrenztes und damit überschaubares „Spielfeld“ abzubilden. So gesehen ist die Psychologie mit ihren vielen Spielarten wie die Wissenschaft überhaupt immer auch ein Spiel. Analog dazu kann die Alchemie nach C. G. Jung auf seine analytische Psychologie, geschichtliche Verläufe auf individuelles Verhalten und das menschliche Individuum auf ein bestimmtes „Menschenbild“ abgebildet werden. Dadurch wird das ungeheuer komplexe, unfassbare Phänomen „Mensch“ und „menschliche Seele“ spielerisch begreifbar und es lässt sich dem Spiel, der Interaktion zwischen Chaos und Ordnung, ein Sinninhalt zuordnen (Abb.7).
Abb. 7: Steuerung der Interaktionen zwischen Chaos und Ordnung durch den Sinn
Die Orientierung zum Sinn hin ist ein finales Denken, das immer mit einer gewissen Unsicherheit gepaart ist und damit auch etwas von der Vielfältigkeit des Chaos durchweht ist. Finales Denken macht die Handlungsfreiheit bewusst. Das kausale Denken will dagegen alles durch eine rigide Ordnung erklären („so und nicht anders!“) und fördert dadurch leicht Fixierungen. Das Spiel wirkt diesen Fixierungen entgegen. Es ist auf ein Ziel hingerichtet und hat damit auch finalen Charakter!
Es ist sicher kein Zufall, dass sich in der Psychotherapie viel Spielerisches etabliert hat, z. B.
- Rollenspiel, Psychodrama
- Aufstellungen verschiedener Art
- Tanz- und Musiktherapie
- Malen und plastisches Gestalten
- Spiel mit Vergleichen, Verfremdungen und Übertreibungen
- ……………………………………………
Aufstellungen mit Spielaspekten sind z. B. Familienausstellungen, Familienstrukturen, inneres Team (Friedemann Schulz von Thun (11)), Tetralemma (Matthias Varga von Kibéd (21)).
Angeregt durch das Buch von Fritz Simon mit dem Titel „Radikale Marktwirtschaft“ (22) habe ich mit Erfolg mit einem Spiel experimentiert, bei dem die Klienten auf einem virtuellen Marktstand das, was sie für die anderen tun wollen und was ihren Wertvorstellungen entspricht, als Waren (W) anbieten, oft allerdings als „Package“. Dafür erwarten sie mit einer Währung bezahlt zu werden, die ihren Bedürfnissen (B) entspricht. Da kann es vorkommen, dass manche Waren sehr begehrt sind, aber nicht im Angebot sind, oder dass Waren angeboten werden, die keiner kaufen will – zumindest nicht zu dem geforderten Preis bzw. als „Package“ zusammen mit unerwünschten Beigaben (23).
In der Logotherapie kommt das Spielerische besonders in der paradoxen Intention zutage. Auch sonst kann uns in der Logotherapie das Spiel enorm dabei unterstützen, den weiten Raum an Möglichkeiten zu erkunden, wie Sinn erfahren und verwirklicht werden könnte. Viktor Frankl weist immer wieder darauf hin, dass der Mensch sich nur in dem Maße selbst verwirklichen und seine Persönlichkeit weiter entwickeln kann, in dem er Sinn erfüllt.
Abb. 8: Persönlichkeitsentwicklung durch die verschiedenen logotherapeutischen Möglichkeiten der Sinn- uns Werteverwirklichung
Wie Abb. 8 verdeutlichen soll, gibt es nach Frankl für die Sinnfindung und Sinnverwirklichung drei Wege, nämlich
- über schöpferisches, gestaltendes, sinnvolles Tun („Schöpferische Werte“),
- über die liebevolle Zuwendung zu anderen Menschen oder wohltuenden Dingen („Erlebniswerte“),
- über die Möglichkeit, auch Verluste und unabwendbares Leid für andere vorbildhaft zu erdulden (Einstellungswerte gegenüber negativem Schicksal) oder für glückliche Fügungen zu danken und andere an der Freude darüber zu beteiligen (Einstellungswerte gegenüber positivem Schicksal). Das entspricht etwa den drei Qualitäten in Goethes Ausspruch: „Edel (s. (c)) sei der Mensch, hilfreich (s. (a)) und gut (s. (b))“.
Die Verwirklichung der schöpferischen Werte erfolgt mehr auf die Außenwelt bezogen durch Arbeit und mehr auf die Innenwelt ausgerichtet in der Pflege der eigenen Gesundheit (vgl. Pfeilrichtungen in den entsprechenden Feldern in Abb. 8). Auf welche Weise Spielaspekte bei der Arbeit nützlich sein können, haben wir bereits oben erwähnt. Spielerisch lernen wir am leichtesten. Das Spiel entspannt uns. Sportliches Spiel der Muskeln und Gliedmaßen fördert ebenfalls unsere Gesundheit.
Erlebniswerte stiften Sinn, wenn man sich z. B. nach außen seinen sozialen Beziehungs-möglichkeiten zuwendet oder mehr nach innen gewandt seine Achtsamkeit verfeinert. Beziehungen werden durch den sozialen Aspekt des Spiels hergestellt und vertieft. Flirt und Spiel, z. B. das heimliche Spiel der Augen, der Hände, des Fächers etc.) steht am Anfang der Liebe. Die Achtsamkeit kann durch Musik und spielerische Bewegungen (z. B. Feldenkrais) gefördert werden.
Bei den Einstellungswerten gibt es im Falle eines positiven Schicksals mehr nach außen gerichtete Potentiale des Dankens und Teilens der eigenen Freude mit anderen. Selbst noch bei negativem Schicksal besteht nach Frankl im Inneren die Möglichkeit, durch eine entsprechende Einstellung das Leiden in eine Leistung zu verwandeln und damit zu beweisen, dass der Mensch selbst in Extremsituationen seine Würde zu bewahren vermag. Der Dank für ein positives Schicksal kann durch entsprechende Spiele (Musik, Tanz, Dichtung und Kunst) zum Ausdruck gebracht werden und selbst ein schweres Schicksal lässt sich mit Gedanken-spielen, mit Musik, Dichtung und Kunst ein wenig leichter ertragen – man erinnere sich nur der Gedankenspiele von Frankl im KZ.
Das Schicksal bringt immer wieder alte Ordnungen zu Fall, aber es bietet oft auch neue Spielmöglichkeiten an, wenn alte Ordnungen stürzen. Immer wieder müssen wir Leid und Frustrationen ertragen und erdulden. Dabei werden in unserem Psychophysikum regressive und aggressive Impulse wach werden. Durch diesen Gefühls-Urwald müssen wir aber durch, um den Übergang in eine neue Phase, Hesse würde sie „Stufe“ nennen, zu bewältigen. Diesen Urwald nannte ich das Toleranzfeld ((24), (25) (tolus = Last, tolerare = dulden, ertragen) (s. Schema Abb. 9, links oben, s. Ausschnitt davon Abb. 9, rechts oben). Wie im Märchen muss ich mich in diesem Toleranz-Urwald vielen Aufgaben stellen, die mich manchmal an meine Grenzen führen, ehe ich meine (innere) „Prinzessin“ lieben bzw. befreien oder meine (innere) „Hexe“ verbrennen kann. Könnte das Agieren im Spannungsfeld von Akzeptanz = “Liebe“ und Regression/Aggression bzw. von geistiger und psychischer Dimension mit dem Wandel auf den verschlungenen Wegen des Toleranz-Urwaldes nicht vielleicht auch zu einem Spiel ausgestaltet werden (s. Abb. 9, unten)? Nicht nur der homo faber hat die Möglichkeit, sich in den homo ludens verwandeln!
Abb. 9: Mögliche Spielwege bei Frustrationen und Leid (=Phasenübergängen)
Die Suche nach Spielaspekten oder das Spiel selbst kann uns darin unterstützen , unseren potentiellen Freiraum zu entdecken und nach Sinnvollem und Wertvollem zu suchen und dieses dann auszugestalten. So hat das Spiel einen wohl begründeten Platz in der Psychotherapie; denn es bietet viele Vorteile – insbesondere auch in der Logotherapie (logotherapeutische Zielsetzungen in Klammern):
- Erweiterung des Gesichtsfeldes und Förderung der Flexibilität (Freiraum entdecken, Selbstdistanzierung)
- Förderung der Kreativität (schöpferische Werte, Erlebniswerte)
- Gewinn an Freiheit, Unabhängigkeit und Distanz (Selbstdistanzierung, Selbsttranszendenz)
- Steigerung der sozialen Kontakte (Erlebniswerte)
- Förderung der Risikobereitschaft (Distanzierung und Überwindung von Ängsten)
- Zunahme der Fähigkeit, Frustrationen und Verluste (z. B. Arbeitslosigkeit) zu ertragen (Einstellungswerte zu negativen Schicksal)
- Zugewinn an Erkenntnis und Erfahrungen (Einstellungswerte)
- Entstehen von Freude und Begeisterung (Erlebniswerte, Einstellungswerte zu positiven Schicksal)
„Spiel“ ist ein Thema, das heute in der Luft liegt. „Spiel“ kann missbraucht werden; es lässt sich aber auch gut gebrauchen. Ohne irgendein Risiko einzugehen ist bei jedem Problem zumindest die Frage erlaubt: Was würde sein, wenn es nur ein Spiel wäre? Vielleicht eröffnet mir diese Frage neue, bisher übersehene Perspektiven und Entwicklungspotentiale und eventuell wächst in mir die Lust daran, neue Spiele zu finden und zu erfinden. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich das Aufsetzen der „Spielbrille“ lohnt!
Literatur
- Hermann Haken, Arne Wunderlin: „Selbststrukturierung der Materie“, Vieweg Verlag, Braunschweig, 1991
- Hermann Haken: „Erfolgsgeheimnisse der Natur“, Deutsche Verlagsanstalt, 1986
- Hermann Haken / Günter Schliepek: „Synergetik in der Psychologie“, Göttingen u. a., 2006
- Kenneth J. Gergen: „Das übersättigte Selbst“, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 1996
- Johan Huizinga: „Homo ludens“, Rowolt, Reinbeck bei Hamburg, 19. Aufl. 1999
- Ali Wichmann in einem Interview mit G. Fischer und Ch. Sommer, Brand 1, 08/06, S. 60ff
- Manfred Eigen / Ruthild Winkler: „Das Spiel – Naturgesetze steuern den Zufall“, R. Piper, München – Zürich, 2. Aufl. 1976
- Stefan Scholl: „Mit Vollgas in die Kurve“, Brand Eins 08/06, S. 100f)
- Aristoles: „Nikomachische Ethik“ IV
- Virginia Satir: „Selbstwert und Kommunikation“, J. Pfeiffer, München, 12. Aufl. 1996
- Friedemann Schulz von Thun: „Miteinander Reden“, Bd. 3, Rowolt, Reinbeck bei Hamburg, 1999
- Jens Bergmann: „Der Sandkasten des Saarlandes“, Brand Eins 08/06, S. 84ff
- Albert Einstein zitiert nach Christoph Rosol, Susanne Utzt: „Doktorspiele“, Brand Eins
- Platon: „Gesetze II“: S. 653 (zitiert nach (5))
- Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“;
Werke in 12 Bänden , 14. und 15. Brief, Bd. 11 -12, Verl. U. Weichert, Berlin, 1910(?), S. 314 ff - Aristoteles: Politik VIII, S. 1399a (zitiert nach (5))
- Peter Laudenbach: „Machen Sie Ihr Spiel“, Brand Eins 08/06, S. 89 – 95
- Mihaly Csikszentmihalyi: „Lebe gut!“, S. 57, Klett-Cotta, Stuttgart, 1999
- Viktor E. Frankl: „…trotzdem Ja zum Leben sagen“, dtv, München, 25. Aufl. 2005
- Hermann Hesse: „Das Glasperlenspiel“, Suhrkamp Verlag, 1960, S. 605
- Insa Sparrer, Matthias Varga von Kibéd: „Ganz im Gegenteil“, Carl Auer, 2000
- Fritz B. Simon: „„Radikale“ Marktwirtschaft“, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 1992
- Wolfgang Hoffmann: „Toleranz“, Vortrag bei der Frühjahrstagung der Sektion Logotherapie in Wirtschaft und Arbeitswelt der Deutschen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (West), 2003
- Wolfgang Hoffmann: „Der Wille zur Gesundheit“, Vortrag auf der Herbsttagung der Gesellschaft
für Logotherapie und Existenzanalyse Ost, 2003 - Wolfgang Hoffmann: „Macht Gesundheit Sinn?“ Medizinische Welt, 2005, S. 256ff
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